Rabindranath Tagore: Vorlesung, Universität Berlin, Juni 1921

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"Indien spricht alle Orte heilig, die die besondere Schönheit oder den Glanz der Natur zeigen, und zählt sie zu Zielen einer Pilgerfahrt. Der Himalaya Indiens ist heilig und das Vindhyagebirge. Heilig sind Indiens majestätische Flüsse, heilig sind der See Manasarovar und der Zusammenfluss von Ganges und Jamuna. Indien hat mit seiner Stimme und seiner Verehrung die große Natur durchdrungen, die Natur, von der ihre Kinder umgeben sind, deren Licht ihre Augen mit Freude erfüllt, und deren Wasser sie reinigt, und deren Nahrung ihnen Leben gibt, und aus deren majestätischem Geheimnis sich ständig die Erkenntnis des Unendlichen im Reich der Musik, der Düfte und der Farben erschließt und so die Seelen erweckt. Indien gewinnt die Welt durch Anbetung und Verehrung, durch die Gemeinschaft der Seelen.

Die Idee der Freiheit, nach der Indien strebte, beruhte auf der Verwirklichung der geistigen Einheit. Es ist Indiens Pflicht, dieser großen Idee die Treue zu halten und niemals zu erlauben, dass diese ausgelöscht wird durch den Sturm der Leidenschaft, der jetzt über unsere gegenwärtige Welt hinwegfegt. Daher müssen wir heute sehr sorgfältig nach den Grundideen suchen, mit deren Hilfe Indien in der Lage sein wird, sich selbst zu verwirklichen.

Diese Grundideen sind weder die Vorstellung von Indien als Handelsmacht und auch nicht als Nationalstaat. Der Weg zu ihnen führt nicht allein über Selbst-Bestimmung, sondern Selbst-Überwindung und Selbst-Hingabe. Die Stimme dieser Grundideen übertönte in Indiens alten Wäldern stets den Lärm der Rassenkonflikte; sie wurde verkündet in den ‚Upanishadas’ und erläutert in der ‚Gita’; Lord Buddha sagte sich von der Welt los, damit er diese Grundidee zu einem weltumspannenden Losungswort machen konnte; Kabir, Nanak und andere Geistesgrößen Indiens setzten die Verbreitung dieser Botschaft fort. Indiens großes Werk, das immer noch tief in seinem Herzen ruht, wartet jetzt drauf, in sich selbst Hindus, Moslems, Buddhisten und Christen zu vereinigen, nicht durch Gewalt, nicht durch die Gleichgültigkeit der Resignation, sondern durch die Harmonie einer aktiven Zusammenarbeit. [...]"

“India holds sacred, and counts as places of pilgrimage, all spots which display a special beauty or splendour of nature. The Himâlayas of India are sacred and the Vindhya Hills. Her majestic rivers are sacred. Lake Mânasa and the confluence of the Ganges and the Jamuna are sacred. India has saturated with her voice and worship the great Nature with which her children are surrounded, whose light fills their eyes with gladness, and whose water cleanses them, whose food gives them life, and from whose majestic mystery comes forth constant declaration of the infinite in music, scent, and colour, bringing awakening to their soul . India gains the world through worship, through communion of souls.

The idea of freedom to which India aspired was based upon realisation of spiritual unity. It is India’s duty to be loyal to this great truth and never allow it to be extinguished by the storm of passion sweeping over the present-day world. That is why we must be careful today to try to find out the principle by means of which India will be able for certain to realize herself.

That principle is neither commercialism nor nationalism. It is not merely self-determination, but self-conquest and self-dedication. The voice of this truth was heard in India’s forests of old above the din of race conflicts; it was declared in the ‘Upanishadas’ and expounded in the ‘Gita’; Lord Buddha renounced the world that he might make this truth a household world for all mankind; Kabir, Nanak and other great spirits of India continued to proclaim its message. India’s great achievement which is still stored deep within her heart, is waiting to unite within itself Hindu, Moslem, Buddhist and Christian, not by force, not by the apathy of resignation, but in the harmony of active co-operation. […]”